Wir haben ein Ritual. Jeden Morgen springe ich auf Wilhelms Bett. Es ist nicht sehr hoch, sonst würden das meine alten Knochen auch nicht mehr mitmachen. Wilhelm und ich sind ungefähr gleich alt – wenn man Hundejahre und Menschenjahre vergleichen kann. Wilhelm ist mein Herrchen. Aber das hält uns nicht davon ab, jeden Morgen wild im Bett zu toben. Das geht eine ganze Weile so bis wie beide außer Puste sind. Danach steht Wilhelm dann auf - immer um die gleiche Zeit -, macht uns das Frühstück, legt mir mein hellblaues Halstuch um und packt die Utensilien für seinen Job ein. Und natürlich packt er auch mein Equipment zusammen, denn wir gehen gemeinsam zur Arbeit. Ich brauche eine warme Wolldecke, einen Trinknapf, einen Kauknochen, Futter und einen Ball zum Spielen. Mein Herrchen braucht nur sein Schiebewägelchen und einen Haufen bedrucktes Papier.
Wir fahren immer mit der U-Bahn zur Arbeit und müssen dabei nur einmal umsteigen. Ich habe immer ein bisschen Angst vor den fahrenden Treppen, deswegen nimmt mich Wilhelm dabei in seinem Wägelchen mit. Das hat ein kleines Körbchen in dem meine Decke liegt. Darauf kann ich dann bequem sitzen. Viele Leute freuen sich darüber und lachen uns an.
Seit fast zwei Jahren ist unser Arbeitsplatz eine Säule in einem hektischen aber warmen S-Bahnhof. Dort sind wir genau eine Etage unter der Erde. Über uns ist die Fußgängerzone, unter uns brausen die Züge vorbei. Man merkt das manchmal, wenn ein kräftiger Wind durch den Bahnhof fegt. Ich bin froh, dass es an unserem Stammplatz auf meiner Decke nicht kalt ist und zieht – da fange ich dann immer so schnell an zu frieren und auch mein Herrchen ist nicht mehr der Gesündeste. Immerhin kann er sich nun Handschuhe für den Winter kaufen.
Wenn wir also an der Säule ankommen, breitet mein Herrchen die Decke für mich aus, stellt den Futternapf hin und macht es sich auf seinem Schiebewägelchen gemütlich. Das knarzt immer ein bisschen und wenn Wilhelm hin und herrutscht, quietschen die Scharniere an den kleinen Rädern. Diese vertrauten Geräusche und all die rennenden, redenden, Tüten tragenden, Zigaretten rauchenden und manchmal auch freundlich lächelnden Menschen lullen mich wie jeden Tag ein. Ich kugele mich wie ein Igel auf meiner Decke zusammen und döse.
Ich merke aber noch, was um mich herum passiert, denn ich kann dösen und dabei gleichzeitig ein Auge halb öffnen um meine Umgebung und die Menschen zu beobachten. Manchmal schlafe ich auch ein, ich bin mir aber nicht sicher, wann. Daher weiß ich auch nicht genau, was mein Herrchen wirklich den ganzen Tag dort macht.
Meist sitzt er vergnügt auf seinem Wägelchen, hält ein paar der bedruckten Papiere in der Hand und schaut sich die Menschen an, die an uns vorbeihuschen. Viele von ihnen erkennt er wieder, denn sie müssen jeden Tag an ihm vorbei: Da ist die Schülerin, die nach dem Unterricht in einem Modegeschäft arbeitet und der Kaufhausdirektor auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz. Da gibt es Mütter mit Kindern, alte Damen und wilde Jungs mit Skateboards. Und natürlich zahlreiche Touristen, die verwirrt auf Stadtpläne und Reiseführer starren. Viele der Vorbeihastenden sehen uns nicht und wollen auch kein bedrucktes Papier kaufen. Einige aber bleiben stehen, um mir den Kopf zu tätscheln. Dann blinzle ich unter meinem halb offenen Auge hervor und sehe, wie Wilhelm sich freut. Er lächelt unseren Besucher an und meist kauft der dann auch ein bisschen von dem Papier.
Von dem Geld kann Wilhelm Futter für mich und sich kaufen. Wir können nun auch die Miete für eine Wohnung aufbringen, haben eine Heizung und Wilhelm sein warmes Bad. Manchmal kommen auch Freunde oder Bekannte von Wilhelm vorbei. Einige von ihnen verkaufen ebenfalls bedrucktes Papier. Sie unterhalten sich dann über dies und das und über ihre Arbeit. Meist erzählen sie von ihrem früheren Leben und wie gut es das Schicksal mit ihnen gemeint hat, dass sie nun im Bahnhof das Papier verkaufen können. Das sind die schönsten Minuten des Tages, wenn Wilhelm mit seinen Freunden zusammensteht und lacht. Den Großteil des Tages verschlafe ich allerdings. Es ist so schön warm an der Säule und das rhythmische Getrappel der vielen tausend Füße macht mich schläfrig. Ich träume dann von alten Zeiten und wie ich noch die Tauben in der Stadt gejagt habe. Das macht mich glücklich und wenn Wilhelm mich weckt um nach Hause zu gehen, freuen wir uns beide, dass wir wieder einen schönen Tag im Bahnhof verbracht haben. Wilhelm murmelt dann oft etwas von „endlich einer Arbeit nachgehen“, ich nenne es meinen „Traum“-Job.
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